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Den sozialen und räumlichen Zusammenhalt stärken

SÄULE 2

Sozialer und räumlicher Zusammenhalt sind eine Grundvoraussetzung für ein funktionierendes Gemeinwesen. Soziale, wirtschaftliche und räumliche Ungleichheiten, die als ungerecht empfunden werden, können gesellschaftliche Konflikte auslösen. Sie gefährden damit auch die Akzeptanz der Institutionen des Gemeinwesens.

Es ist Auftrag der Raumentwicklung, dafür zu sorgen, dass regionale und räumliche Unterschiede in der Lebensqualität, der Wirtschaftsleistung, den Einkommen, der Versorgung mit Infrastrukturen und Diensten der Daseinsvorsorge sowie der individuellen Startchancen und Entwicklungsmöglichkeiten den räumlichen und sozialen Zusammenhalt nicht gefährden. Im ÖREK 2030 stehen dafür der Grundsatz der „Gerechten Raumentwicklung“ und das räumlichen Ziel „Die Lebensqualität und gleichwertige Lebensbedingungen für alle Menschen in allen Regionen bedarfsorientiert entwickeln“.

Regionen und Räume weisen unterschiedliche Qualitäten auf, die in raumstrukturellen Rahmenbedingungen (z.B. Topografie, Ressourcenausstattung, Klima, Erreichbarkeit, etc.) verankert sind. Es geht einerseits darum, ausgehend von den spezifischen regionalen und räumlichen Qualitäten Mindeststandards zu gewährleisten. Andererseits geht es darum, relative Ungleichheiten nicht unvertretbar groß werden zu lassen. Das erfordert regions- und raumtypenspezifische Zugänge, die besonders an den Schwachstellen und Mängeln ansetzen. Durch systemische Maßnahmen oder punktuelle kompensatorische Interventionen wird einen Ausgleich angestrebt.

Regionale und räumliche Unterschiede können mit objektiven und subjektiven Merkmalsmessungen sichtbar gemacht werden. Objektive Merkmale sind etwa das Einkommen, das Arbeitsplatzangebot, die Wohnungskosten, die Erreichbarkeit von Einrichtungen der Daseinsvorsorge. Subjekte Merkmale sind die allgemeine Lebenszufriedenheit, die Zufriedenheit mit der Wohnumgebung, mit der Arbeit, den persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten oder den sozialen Beziehungen im Lebensumfeld.

In Österreich sind in vielen ländlichen Regionen die Einkommen und die Erreichbarkeit von Einrichtungen der Daseinsvorsorge im Durchschnitt signifikant geringer als in städtischen Regionen. In diesen Gebieten ist etwa auch der Mobilitätsaufwand deutlich höher als in den städtischen Regionen. Wanderungsbewegungen lassen darauf schließen, dass städtische Regionen als Arbeits- und Karriereorte attraktiver sind. Dafür sind in den ländlichen Regionen die Wohnungskosten günstiger, die Wohnumfeld- und die Umweltqualität deutlich höher als in städtischen Regionen.

Umso mehr geht es darum, regionale und räumliche Strategien auf jene raumtypenspezifischenProbleme zu lenken, die einen großen Beitrag zur Verringerung von Ungleichheit und zur Angleichung von Lebenschancen leisten können.

Der soziale und räumliche Zusammenhalt ist keine stabile Größe. Die Megatrends und der damit verbundene Transformationsbedarf stellen auch die Raumentwicklung und Raumordnung vor neue Herausforderungen. Folgende Aspekte sind dabei besonders zu beachten:

Die Bevölkerung in Österreich ist in den letzten Jahren dynamisch gewachsen, von 2001–2019 nahm die Bevölkerung um 828.775 Personen (+9,3 %) zu. Ein, wenn auch etwas geringeres, Wachstum wird für die weitere Zukunft prognostiziert, in etwa +7,2 % bis 2040 ( ÖROK 2019b). Die Bevölkerung wuchs in erster Linie aufgrund der Zuwanderung aus dem Ausland, besonders in Stadtregionen. Auch in Regionen mit Bevölkerungsrückgang wanderten Menschen zu, allerdings unter dem Strich weniger als abwanderten. Insgesamt weist ein großer Teil der politischen Bezirke in Österreich Bevölkerungsrückgänge auf. Sie werden durch negative Geburtenraten und negative Binnenwanderungsbilanzen verursacht.

Die demografischen Veränderungen führen zu einer Veränderung der Altersstruktur: Die Bevölkerung wird insgesamt deutlich älter und ein wenig jünger. Laut Prognosen nimmt bis 2040 die Zahl der Personen im Alter von 65 und mehr Jahren um gut 52 % und die Zahl der Kinder und Jugendlichen um 9,5 % zu. Personen im erwerbsfähigen Alter wird es zukünftig weniger geben. Ihre Zahl nimmt bis 2040 um 5,6 % ab. Diese Entwicklungen wirken vor allem in ländlichen Regionen. Städtische Regionen sind davon aufgrund der prognostizierten Zuwanderung von Personen im Erwerbsalter weniger stark berührt (ÖROK 2019b).

Eine Entwicklung, die alle Regionen in Österreich betrifft, ist der mit der zunehmenden Vielfalt und Individualisierung einhergehende gesellschaftliche Wandel: Die Bevölkerung wird nicht nur durch Wanderung (Binnenwanderung, internationale Wanderung) sondern auch durch die Zunahme verschiedener Lebensformen und -entwürfe vielfältiger und diverser (vgl. u.a. ÖROK 2019b, ARE 2019). Digitalisierung und Globalisierung als weltweite Megatrends unterstützen diese Entwicklungen, Social-Media-Plattformen bilden „Global Communities“ und Wertegemeinschaften heraus, in denen die Vernetzung über tausende Kilometer genauso einfach möglich ist wie in das Nebenzimmer. Veränderungen im Erwerbsleben (Stichwort „Remote Working“ oder „Homeoffice“), im Konsum- und Freizeitverhalten gehen mit dem gesellschaftlichen Wandel ebenfalls einher und wirken in allen Regionen.

Globalisierung, Digitalisierung und gesellschaftlicher Wandel sind auch mit einer Zunahme mobiler und „mehrortiger“ Lebensformen („Multilokalität“) verbunden. Sie beschränken sich nicht allein auf Österreich. Multilokalität gibt es auch über Staatsgrenzen hinweg. Die Covid-19-Pandemie hat die Mobilität zwar eingeschränkt, die Möglichkeiten temporärer bis längerfristiger Verlagerungen des Wohnortes gewinnen aber zunehmend an Bedeutung (vgl. u.a. regio.suisse 2020, ARL 2020). Das umfasst allerdings nicht nur „freiwillig“ gewählte Veränderungen des Wohnortes (z.B. „Hitzeflüchtlinge in der Sommerfrische“ oder „weltweite Nomad:innen“). Dazu gehören auch extern bedingte Verlagerungen des Wohnortes, beispielsweise von Saisonarbeiter:innen, Pflegekräften, Erntehelfer:innen oder pendelnden Kindern in Nachtrennungsfamilien.

Gesamt gesehen ergeben sich aus diesen Entwicklungen rund um den demografischen und gesellschaftlichen Wandel große Herausforderungen für die räumliche Entwicklung. Gesellschaftliche Bedürfnisse sowie Anforderungen an die (räumliche) Verfügbarkeit von Dienstleistungen, Infrastrukturen – z.B. Alten- und Pflegeheimen oder Bildungsangebote – ändern sich (vgl. u.a. ESPON 2019). Das hat Auswirkungen auf die Bereitstellung und räumliche Organisation von Diensten der Daseinsvorsorge.

Die Ansprüche der Bevölkerung an Wohn- und Lebensraum steigen und werden vielfältiger. Eine heterogenere Gesellschaft fragt nach unterschiedlichsten Angeboten in Kultur, Freizeit, Bildung etc., nach einer gepflegten Kulturlandschaft sowie Freiflächen für Erholungszwecke (vgl. u.a. ESPON 2018, ARL 2019). In Stadt- oder Tourismusregionen steigen Mieten, Wohn- und Grundstückspreise (vgl. u.a. Statistik Austria (2018)).

Durch die Covid-19-Pandemie rücken vermehrt soziale Verwerfungen in das Rampenlicht. Multilokalität ist nicht immer freiwillig gewählt. Saisonarbeit als ein Teil von Multilokalität kann mit prekären Lebens- und Arbeitssituationen einhergehen. Das betrifft beispielsweise Saisonarbeit im Tourismus oder bei Erntehelfer:innen, „24-Stunden-Betreuer:innen“ etc. Angemessener und leistbarer Wohnraum, wohnortnahe Erholungs- und Grünflächen sowie ansprechende öffentliche Freiräume mit hohen Auftenthaltsqualitäten erhielten in der Covid-19-Pandemie noch stärkere Bedeutung. Soziale Ungleichheiten wurden deutlicher sichtbar: z.B. können „Wissensarbeiter:innen“ Homeoffice aus dem Zweithaus machen, „Systemerhalter:innen“ sind ortsgebunden (vgl. u.a. regio.suisse 2020 oder ACROSS 2020).

Die globale Erwärmung wirkt im Zuge des Klimawandels einhergehende als Verstärker der gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen des demografischen Wandels. Bereits benachteiligte und marginalisierte Gruppen sind vulnerabel und vergleichsweise stärker von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen. Ein Ansteigen der Temperatur ist besonders für die zunehmende ältere Bevölkerung eine Herausforderung. Kleine und schlecht durchlüftbare Wohnungen treffen oft Menschen mit geringem Haushaltseinkommen. Leistbarer Wohnraum muss in Zukunft auch klimafit sein, um gesundheitlichen Problemen der darin lebenden Menschen vorzubeugen. Wohnortnahe Grünflächen leisten neben ihrer Erholungsfunktion zukünftig einen noch wichtigeren Beitrag für die Frischluftzufuhr, Beschattung, Durchgrünung und das Vermeiden von Hitzeinseln. Die Attraktivierung öffentlicher Räume hat aus dieser Perspektive nicht nur eine wichtige soziale Funktion, sondern trägt auch wesentlich zur Klimawandelanpassung und zum Klimaschutz bei (u.a. APCC 2018).

Die Akteur:innen auf allen politischen Ebenen stehen damit vor großen Herausforderungen. Der gesellschaftliche und demografische Wandel sowie die Klimakrise fordern zum unmittelbaren Handeln bei der Gestaltung räumlicher Strukturen und der Unterstützung des Zusammenlebens im Raum auf.

Die Ziele und Handlungsaufträge dieser Säule stehen eng mit den Zielen und Handlungsaufträgen der anderen Säulen in Zusammenhang. Das gilt besonders für die Säule 1 „Mit räumlichen Ressourcen sparsam umgehen“